Die drei Säulen
Das Verstehen der drei Säulen des Leidens kann aber ein erster Schritt in Richtung Freiheit sein.
Übereinstimmend sprechen die östlichen Weisheitslehren, sei es der Buddhismus, der hinduistische Vedanta oder der Tantrismus, von den drei Kräften bzw. den drei Säulen des Leidens:
- Die erste Säule ist Angst
- Die zweite Säule ist Gier
- Die dritte Säule ist Unwissenheit
Angst entsteht aus Bedrohung, und Gier aus einem Gefühl des Mangels. Angst will nicht haben, Gier will haben. Die Angst will etwas vermeiden und zurückweisen, die Gier will etwas bekommen und danach greifen. Die Angst führt zu Rückzug, Erstarrung, Lähmung und Passivität. Die Gier führt zu Wut und Hass, und zur Überaktivität. Die Angst hofft darauf, verschont zu bleiben, die Gier hofft darauf, nicht verschont zu bleiben. Angst will, dass etwas draußen bleibt, die Gier will, dass etwas hereinkommt.
Angst und Gier, „haben wollen“ und „nicht haben wollen“, wechseln sich meist ab und führen zu Dauerstress und Frust. Und so sind wir ständig damit beschäftig, etwas zu vermeiden und etwas zu bekommen. Wir werden durch Angst zu Flüchtlingen und durch Gier zu Jägern und Sammlern.
Das Wirken dieser beiden Leidenskräfte läuft jedoch automatisiert und völlig unbewusst ab. Das bedeutet, dass diese Unbewusstheit einer Unwissenheit und Ignoranz entspricht, die, wie ein Nebelschleier, das Leiden verhüllt und diesen Leidenskreislauf am Leben erhält. Diese Unwissenheit ist die dritte Säule des Leidens.
Wissen kann die Augen öffnen
Unsere Kultur hat hier leider nicht viel zu bieten, um diese Mechanismen zu erkennen und bewusst zu machen. Die uralten östlichen Weisheitslehren haben diesbezüglich einiges mehr zu bieten und beschreiben die Leidensmechanismen ziemlich detailliert und differenziert.
Dieses Wissen kann uns die Augen öffnen und uns die Hintergründe und Zusammenhänge der Leidensprinzipien deutlich machen. Jedoch:
Reicht Wissen aus, um das Leiden zu beenden?
Wissen und Erkenntnis sind Grundvoraussetzung für Veränderungsprozesse, jedoch nicht ausreichend.
Viele alte Lehren sagen zudem, dass wir meditieren und andere Übungen machen sollen, um den Geist und das Gemüt zu beruhigen, damit die Angst weniger wird und die Gier sich besänftigt. Dies ist meist eine Aufforderung, Angst und Gier zu kontrollieren. Die Konsequenz daraus, ist das Bekämpfen, Abspalten und Verdrängen dieser mächtigen Grundtendenzen. Der Weg der Kontrolle, und des Kampfes, ist ein Weg, der einen mächtigen Gegner hat, und zwar unsere biologische Natur. Denn Angst und Gier bzw. Bedürfnisse, garantieren das Überleben und sind in unseren Genen verankert ist. Ohne diese beiden Urtendenzen, wäre Leben nicht möglich.
Die Biologie von Angst und Gier
Angst, in seiner ursprünglichen Form, schützt das Leben. Und die Ursache von Gier, ist Mangel und die daraus entstehen Bedürfnisse, die dafür sorgen sollen, dass sich die notwendige Befriedigung einstellt. Diese beiden Urtriebe mit bloßer Willenskraft und Kontrolle auszulöschen oder sie einfach wegzumeditieren ist nicht möglich und führt zu noch mehr Leiden.
Du hast sicherlich öfters schon versucht, dir Angst auszureden oder dir Zufriedenheit einzureden. Ich vermute mal, mit wenig Erfolg. Diese tiefliegenden biologischen Körpertriebe reagieren nicht auf bloßes Ein- oder Ausreden.
Somit sind Angst und Gier, die beiden Grundsäulen des Leidens, tief in unserer Biologie verankert.
Doch dies ist noch nicht alles…
Die sozialisierte Angst und Gier
Auf diesem Nährboden der biologischen Grundmatrix von Angst und Bedürfnissen, fallen nun unsere Lebenserfahrungen und setzen sich sozusagen oben drauf. Die Lebenserfahrungen bestätigen dieses Grundprogramm oder schwächen es je nach Erfahrung ab.
Durch Erfahrungen der Befriedigung der Grundbedürfnisse von Sicherheit und Sattheit, bleibt dieses biologische Programm inaktiv im Hintergrund, und wird nur bei wirklicher Bedrohung oder Entbehrung aktiviert. Ein sehr sinnvoller und natürlicher Vorgang.
Durch wiederholende Angsterfahrungen und Erfahrungen, in denen die primären Grundbedürfnisse nicht befriedigen werden, im Besonderen in der frühen Lebensphase, bleiben diese beiden Urtriebe permanent aktiv und werden zu einer schier unüberwindbaren Kraft, die unser Leben bestimmt.
Der neue Wissenschaftszweig der Epigenetik bestätigt diesen Zusammenhang. Die Epigenetik sagt, dass unsere Gene einen Umweltreiz brauchen, um abgelesen zu werden oder nicht abgelesen zu werden, um aktiviert oder deaktiviert zu werden. Das bedeutet, dass die Umfeld-Reize und -Impulse entscheiden, ob ein genetisches Programm aktiv wird oder nicht. Wenn man bedenkt, dass pro Zelle und pro Sekunde 100.000 chemische Reaktionen ablaufen, die alle zu jeder Millisekunde von der Genaktivität abhängig sind, kann man nur ehrfurchtsvoll staunen und die Bedeutung dieses Wunders bestenfalls erahnen.
Die beschriebenen Angst- und Mangelerfahrungen aktivieren somit die beiden biologisch und genetisch determinierten Überlebenskräfte und werden zu einem unbewussten Angst- und Mangel- bzw. Gier-Programm, welches tief in unser Zellgedächtnis eingeschrieben und in die tiefen Bereiche unseres Gehirns eingeprägt wird. Diese tiefen Hirnareale, auch Reptilienhirn und Säugetierhirn genannt, sind für unsere Triebe und Emotionen zuständig und sind mit dem „Denk-Hirn“ schwer beeinflussbar.
Die Hirnforschung und die Bindungsforschung bestätigen übereinstimmend, dass tiefe Ängste und das Grundgefühl des Mangels mit dem denkenden Geist und seiner Willenskraft nicht zu erreichen sind.
In den meisten spirituellen Traditionen werden diese Zusammenhänge übersehen und das Zusammenwirken der tiefen genetischen und biografischen Zellprogramme nicht erkannt.
Das ist der Grund, warum wir so veränderungsresistent sind und uns auf dem Weg der Befreiung vom Leiden gegen diese kräftigen Programme, meist die Zähne ausbeißen.
Hinzu kommt noch, dass in unserer Angst- und Gier-Kultur, in der diese beiden Kräfte allgegenwärtig sind, und wir permanent auf alle möglichen Gefahren hingewiesen werden und uns ständig suggeriert wird, was wir alles brauchen würden und sollten, Angst und Gier in diesem unnatürlichen Ausmaß als ganz normal gesehen wird. Dieses gewohnte und unhinterfragte Angst- und Gier-Feld, in welches wir hineingeboren sind, erschwert ein „Sich-Verändern“ zudem. Das Resultat ist eine Angst-und Gier-Identität, auf der sich unser gesamtes Leben aufbaut und ausrichtet.
Zu guter Letzt soll die Angst und Gier auch noch kontrolliert, kompensiert, kaschiert und hinter sozialen Masken verborgen werden. Die Aufforderungen „Sei doch nicht so ängstlich“ oder „sei doch einmal zufrieden“, sind ein Ausdruck davon und verstärken zudem diesen Leidensmechanismus.
Das Endresultat ist eine Leidens-Persönlichkeit, die in sich selbst gefangen ist, sich permanent um sich selbst dreht und damit beschäftigt ist, zu bekommen und nicht zu bekommen. Schon Heraklit beschreibt den Geist einer solchen Persönlichkeit als „Privatverstand“, und die alten Griechen hatten auch einen Begriff dafür: „Idiotes“.
Missing Link
Was ist hier der „missing link“? Wie könnte ein Weg der Befreiung nun aussehen?
Der erste Schritt ist, sich dieser beiden Urkräften des Leidens, der Angst und der Gier, bewusst zu werden. Sie aus dem Nebelschleier der Unwissenheit herauszulösen. Als nächstes ist eine Bereitschaft nötig, diese tiefsitzende Angst und den Mangel anzunehmen, sich diesen Kräften zu stellen und sie zu erforschen. Als Nächstes geht es darum, ohne Vermeidung und Abwehr, sie zu fühlen, ohne Angst vor der Angst und ohne Angst vor der Gier. Es ist ein fühlendes Annehmen. Weiters, und das ist ein entscheidender Punkt, ist eine unmittelbare Erfahrung der Sicherheit und der Fülle bzw. Sattheit notwendig, was in der frühen Lebensphase nicht möglich war, zu ermöglichen bzw. nachzuholen. Die alte Erfahrung durch eine neue zu überschreiben.
Wie kann das gehen?
Was durch eine körperlich-emotionale Erfahrung geprägt wurde, kann nur durch eine entsprechende körperlich-emotionale Erfahrung verändert werden. Die Zellen brauchen sozusagen eine Erfahrung von Sicherheit, Schutz, Sattheit und Liebe. Und dies kann sicherlich nicht mit Worten, Willen, Verstehen oder Meditieren geschehen.
Das mächtigste Medium dafür ist eine intensive, sich wiederholende, achtsame und liebevolle Berührung. Dies ist der entscheidende epigenetische Trigger, der Impuls, der die permanent aktivierten Angst- und Gier-Gene abschalten und deaktivieren kann.
Diese Qualität der Berührung hat die Kraft in sich, das tiefsitzende und chronische Angst- und Mangelprogramm zu entmachten, um dadurch erst einen Weg freizulegen, für eine noch tiefere Erfahrung von Eins-Seins, für eine Erfahrung von Leidensfreiheit. Auf dem Weg zum Glück muss somit der Körper mit seinen tiefen Urkräften und seinem Zellprogrammen miteinbezogen werden.
Dies bedeutet nicht, dass allein durch achtsame und liebevolle Berührung die drei Leidenskräfte restlos entmachtet werden und sich Leidensfreiheit einstellt. Werden jedoch diese basalen Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Sattheit ausreichend befriedigt, kann erst Energie frei werden, für ein tieferes Bedürfnis nach Freiheit, für das Entfachen des inneren Feuers der Sehnsucht, das Leiden zu überwinden. Ist die Energie und Aufmerksamkeit in Angst, in Vermeiden und Bekämpfen einerseits und in Mangel, Unzufriedenheit und Gier andererseits gebunden, steht sie nicht zu Verfügung, für diesen inneren Befreiungsprozess. Alle spirituellen Traditionen bestätigen diese Hindernisse einvernehmlich, jedoch wird die archaische körperliche Intelligenz meist nicht berücksichtigt.